FREDERIK BUETTGEN . SUBLIME SCENERIES




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Das Digitale Erhabene in der Fotografie

PROF. DR. PAUL GOOD

Professor Paul Good worked as a philosopher at
the Kunstakademie Düsseldorf for 25 years and
wrote a series of books about art philosophy.

1     Die ersten Fotografien aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, die ich von Landschaften und Personen in guter Erinnerung habe, waren vielleicht 4 x 4 cm oder 4 x 6 cm klein, hübsche schwarzweiße Bildchen, die man von Hand zu Hand gereicht hat, die keinerlei Anspruch auf Kunstfotografie erheben konnten. Den Erinnerungswert an die längst vergangene Zeit haben sie bis heute nicht verloren. Ob es von dieser ersten Begegnung herrührt, ich weiß es nicht, die Fotografie behielt für mich auch als Kunstfotografie, egal welchen Inhalts, über alle Jahrzehnte etwas Intimes. Sie erschafft eine persönliche Empfindung von einem Ausschnitt von „Welt“, der entsprechend kleinformatig die Phantasie des Betrachters besonders mobilisiert. In den Kleinformen, bei der Sprache etwa Spruch, Aphorismus, Gedicht, liegt eine eigene poetische Kraft. Der Phantasie ist Raum gelassen. Heute möchte ich philosophisch formulieren: allein Phantasie deutet Welt adäquat. Intimität und Phantasie machen das Poetische aus.

Und nun sehe ich mich seit dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in der Kunst der Fotografie mit Riesenformaten konfrontiert, die von der Intimität einer kleinen Welt definitiv Abschied genommen haben. Die Fotografie kann auch anders, wird mir gezeigt. Und ich muss mich fragen, was für eine Welt präsentieren mir diese Großformate? Welche Bereicherung erfährt der Begriff des fotografischen Bildes, wenn es sich in schon monumental zu nennenden Ausmaßen vor mir ausbreitet? Worin steckt die neue Poesie solcher Fotografien?

Ich weiß, die Jungen stellen sich diese Frage nicht. Sie reizen die technischen Mittel und Möglichkeiten aus. Sie leben selbst in einer großformatigen, mobil globalisierten Welt. Und es bleibt an mir die durch die medialen Techniken neu geschaffene Poesie des Fotobildes erst noch zu entdecken. Genau das fordern die Riesenformate von Frederik Büttgen mit Küsten Südafrikas heraus.

2     Abstrakt, tiefblau abstrakt, einmal etwa im Verhältnis von 7:8 Meer abstrakt zu 1:8 Wellen und Sandstreifen der Küstenlandschaft figurativ, meist menschenleer. Nur einmal liegen weit entfernt auf einem Strand Menschen wie Streichhölzer herum. Also, bei der Serie viermal der gleiche Küstenstreifen in Südafrika fesselt zuerst die Abstraktion: ein riesiges Meer wird als abstrakte Farbfläche dargeboten. Diese im Verhältnis zur Küste überdimensionierte dunkle Fläche gibt dem Format eine bedrohliche Monumentalität. Ein ästhetisches Ideal hat das stürmische Meer in eine ruhige, doch massive Farbzone verwandelt. Das Sinnliche und Körperliche der Farbe ist auf Flächen- und Weiten-Effekte reduziert, sagen wir, nach Art der Farbflächenmalerei poetisch eingesetzt worden. Intimität und Phantasie der Absolutheit des Erhabenen ausgeliefert?

Im Durchgang durch die Flächenfarben, auf einem Tablett gereicht, der schmale, weit entfernte Küstenstreifen. Herrlich! Einmal schlängeln sich schäumende Wellen weißlich bläulich wie eine Edelsteinkette um den fast nackten Hals der Küste, die von einer Straßenlinie begrenzt wird. Im Kontrast zur abstrakten Fläche jetzt die Schärfe der Figuration bei der Küste. Besonders spannend entwickelt sich beim Bild mit den Streichholz-Menschlein im Sand der Wellenbereich: schäumend weiße, tief hintereinander gestaffelte, übereinander rollende Wellengebirge erzeugen eine Gewalt des Meeres, dem nichts Lebendiges etwas entgegenzuhalten vermöchte. Keine Wellensurfer weit und breit! Ich persönlich fürchte die übermenschliche Wucht des Meeres. Ich bin in einer Berglandschaft geboren. Heraklits Diktum, dass das ˇ’Ηθος, die eigene Art, die Erstprägung, des Menschen Dämon sei, macht mich zum Bergsteiger ohne Furcht, lässt mir aber auch die Übergewalt des Meeres bedrohlicher erscheinen. Dieser überdimensionierte Wellengang zeigt mir ebenso massiv wie die Farbflächen, im Kontrast zu den en miniature am Strand Liegenden, das poetische Potential von der Urgewalt der Weltmeere. Mir ist, Gebirge wälzten sich wie Ungeheuer übereinander.

3     Spätestens an dieser Stelle stellt man sich die Frage: Wie hat der Fotograf das bloß gemacht? Denn als ein Gemachtes, was auch im griechischen Wort „poetisch“ ausgedrückt wird, nämlich dass man Poesie erst noch machen muss, entpuppt sich solcher Wellengang über bstrakt ruhigem Meer allemal. Derart kann man Ebbe nicht fotografieren. Aber schon bei den anderen drei Beispielen musste sofort ins Auge springen, dass bei solcher Entfernung, bei dieser Weite des Meerblicks ein menschliches Auge den Küstenstreifen nicht in solcher Breite bei gleichzeitiger Schärfe von Details wahrnehmen kann. Was mir durch perfekte digitale Bearbeitung und Drucktechnik als faszinierende Farbtafel präsentiert wird, erweist sich von seiner Entstehung her als eine raffinierte Fotocollage. Ein paar Dutzend Fotos verschmelzen zu einem einzigen riesigen Meer- und Küstenblick, den so nur Götter haben. Dem menschlichen Auge bzw. der Kamera kam der Helikopter zu Hilfe: die ungleichzeitig geschossenen Fotoausschnitte vereinigt zur Einheit und Gleichzeitigkeit eines einzigen Bildes. Ein heterogenes Gefüge als Bildeinheit! Damit kommen wir dem Poetischen dieser Großformate langsam auf die Spur. Entfernung wie auch Weite der abstrakten Fläche und zugleich Länge wie auch Nähe des Küstenstreifens entstammen sukzessiven Helikopteraufnahmen, die kompositorisch zum Simultanbild verschmelzen. Im Grunde manipuliert das Großbild die Zeit, die unsere Wahrnehmung und Beobachtung der Welt stets bestimmt und begrenzt.

Eine doppelte Optik bestimmt die Komposition: eine Fernoptik und eine Nahoptik wurden ineinander geschoben. Abstraktion, Leere, Weite einerseits, Figürlichkeit, Genauigkeit, Nähe andererseits liefern zusammen den Schlüssel zu diesen Großformaten. Wir haben einmal die abstrakten leeren Farbflächen, sodann aber die extreme Detailschärfe der schmalen Küstenstreifen. Man kann Dinge am Strand erkennen. Man sieht aus riesiger Distanz den Highway überdeutlich. Er wurde aus mehreren Aufnahmen zusammengesetzt. Hellblaue Buchten, schäumende Ränder, Felsen und Wiesen mit Bäumen erscheinen ganz nah. Kein reales Auge aus einem zentralen Bild-Blickpunkt aus könnte beide Bereiche so wahrnehmen und erkennen. Diese Komposition demonstriert dezentriertes Sehen.

4     Das gleiche Collage-Prinzip, in den Bildern nicht wirklich wahrnehmbar, wird auch auf das klassische Werbemotiv „Badestrand“ in einem geradezu puristischen Perfektionismus übertragen. Es handelt sich um die berühmte „Cliffton Beach“, von der vier weiße Sandstrände von ähnlicher Topographie gezeigt werden. Im Vordergrund dieser Viererreihe haben wir wieder die Detailschärfe. Bei „Cliffton Beach Four“ kann man sogar den Schriftzug von Cola auf dem noch geschlossenen roten Sonnenschirm lesen. Die klinisch reinen Sandstrände füllen sich je nach Beliebtheitsgrad am Morgen langsam mit Menschen. Sie lagern sich einzeln oder in Grüppchen, ohne dass das übliche Massengelage südlicher Strände entstünde. Alle Meerblicke wurden von einem erhöhten Standort aus fotografiert. Im Hintergrund flimmert ein im Format von zwei Dritteln der Bildgröße mutig gewählter leerer, bloß gehaucht blauer Morgenhimmel.

Im Druck scheint eine wohl ausgewogene Überbelichtung die Unwirklichkeit des Motivs zu verstärken und künstlich ein digital hergestelltes Erhabenes herzuzaubern. Die Bild-Leere erzeugt die irre Leichtigkeit einer Naturempfindung. Mit den von Büschen und Felsen beidseits gerahmten Strandkorridoren strahlen diese hell ins Offene schauenden Fotografien eine unglaubliche Ruhe und Entspanntheit aus. Wer möchte nicht in dieser idealen Welt einen nie endenden Urlaub verbringen! Diese Sequenz des weißsandigen Badestrandes präsentiert sich als perfekte Werbefotografie für den paradiesisch schönen Südafrika Strand. Eine Karriere als Werbefotograf ist garantiert. Menschen sehen und erinnern nach Art von Postkarten und Werbebildern. Und handeln, wenn sie können, entsprechend.

Philosophisch gewinne ich dem Riesenformat nun aber auch eine ironisch-kritische Note an derart überschönen Werbewelten ab. Schon das Format überführt sie als realitätsferne Träume. Ferien machen bedeutet Träumen. Die Werbefotografie muss verführen. Und Frederik Büttgen versteht sich perfekt darauf. Philosophisch heißt das: mit Scheinwelten brillieren. Mit Nietzsche wird, wo die Welt den Sinn in der Tiefe der Elemente und in der Höhe der Ideen hinter sich lässt, der Sinn nunmehr unendlich an der Oberfläche der Dinge zirkuliert, was die Fotokunst naturgemäß immer interessierte, mit Nietzsche wird in der Werbung der Schein heilig gesprochen. Das wäre denn auch die intellektuelle Grenze der Werbefotografie, die aus diesen Bildern spricht. Ein Problembewusstsein für Südafrika manifestiert dieser Badestrand natürlich nicht.

5    Die digitale Fotografie erlaubt durch Komposition einen unerwartet hohen Eingriff in die fotografierte Welt, der die konventionellen Kategorien des Sehens und gleichzeitig den Bildbegriff erweitert. „Die Sonne so breit wie ein Menschenfuß.“ Dieser Spruch wird dem oben schon genannten vorsokratischen Philosophen Heraklit aus Ephesos um 500 v. Chr. zugeschrieben. Du liegst am Strand in der Sonne. Du streckst deinen Fuß leicht in die Höhe und schon deckst du mit bloßer Fußbreite die riesige Sonne in großer Entfernung ab. Wahrnehmung und Wahrheit resultieren aus den Mitteln und Verfahren, die zur Gewinnung zur Verfügung stehen. Wir sind leiblich endlich verfasst. Wir können nur unter Bedingungen Welt erkennen. Frederik Büttgen scheut keinen Aufwand, diese Bedingungen sowohl bei der Aufnahme als auch bei der Komposition zu verschieben. Er bietet einen Helikopter auf, fügt Einzelbilder zu einer Gesamtanschauung von Meer und Landschaft zusammen, um der Fotografie ein digitales Erhabenes als neues, starkes Bild-Potential zu erschließen.

Wie gesagt, die monumentale Wucht entfalten diese Fotografien vor allem aufgrund großer, fast monochromer Flächen von Wasser oder Himmel, in die der Betrachter wie in ein abstraktes Bild hineingezogen wird. Als Barnett Newman in der Malerei mit wandgroßen roten Bildformaten (Colour Field Painting) den üblichen Standpunkt des Sehens dadurch provozierte, dass er den Betrachter buchstäblich in die Farbe hineinlaufen ließ, sein Sehen wurde rundum atmosphärisch vom Rot verschlungen, hebelte er so die gängige Subjekt- Objekt-Trennung bei der Betrachtung von Malerei aus, um eine Empfindung des Sublimen zu erzeugen. Es ist in der Fotografie der Becher-Nachfolger, nachdem das Meisterpaar selbst ganz dem intimen Kleinformat verpflichtet war, in Düsseldorf Mode geworden, die drucktechnisch äußerst mögliche Größe in der Fotokunst auszureizen. Frederik Büttgen gehört nicht dieser Gruppe an, knüpft aber frech daran an. Sein Großformat erkämpft sich durch Perfektion und Ästhetik einen Platz im gegenwärtigen Fotoboom.

6    „Fast alles an mir ist Prothese!“ sagt die reiche Protagonistin in der Tragikomödie Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt aus dem Jahre 1956 und schlägt lachend die Hand auf den kalten Oberschenkel. Sie ist nach Güllen, dem Ort ihrer Kindheit, zurückgekehrt, um sich am Jugendgeliebten zu rächen, der sie geschwängert und dann in die Wüste geschickt hatte.

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist der mechanische und elektronische Support des menschlichen Körpers mit seinen begrenzten Organen und Sinnen bis hin zur mentalen Stützung und Steuerung durch fast grenzenlose mediale Technologien in einem Maße gesteigert worden, dass auch die Künste vollends von dieser Entwicklung erfasst wurden. Rächen sich diese Technologien jetzt an der Intimität und Phantasie der früheren Welt- und Menschenbilder?

Die Fotografie erscheint mir als eine solche in die Jahre gekommene Dame, die sich beim Sehen von Anfang an der Prothese eines Apparates bedienen musste und sich heute durch digitale Speicherungs- und Bearbeitungstechniken à la Fotoshop in die komfortable Lage versetzt sieht, ein ungeahnt erweitertes Apparate-Sehen zu eröffnen. Dadurch geraten alle Begriffe von Natur und Authentizität des Bildes ins Wanken.

Einst mit dokumentarischem Anspruch angetreten, Natur authentisch abzulichten, hat sich das Maß von Authentizität zugunsten künstlicher Bildwelten gewaltig reduziert. Das alte „Dogma der Authentizität“, Ereignisse in Realzeit ins Bild zu bannen, wird natürlich zurecht im Zusammenhang mit fotografischer Berichterstattung über Krieg, Katastrophe, Terror noch immer bemüht. Aber bereits im Ersten Weltkrieg wurden Kampfszenen hinter der Frontlinie „gestellt“ aufgenommen. Der Mythos von Robert Capas fotografischer Ikone des im Spanischen Bürgerkrieg 1936 vor der Kamera „in lifetime“ fallenden Soldaten weckt heute Zweifel. Es gibt keine Fotografie, die nicht irgendwie bearbeitet wurde. Ein von Paul Hansen am 20. November 2012 geschossenes Foto „Begräbnis in Gaza“ bekam soeben den World Press Photo Award 2013. Echt oder gestellt? Authentisch oder bearbeitet? Ich schlage vor, authentisch obwohl bearbeitet. Ich sage dafür: authentopoetisch!

In einem künstlerischen Sinn, nach Maßgabe der Collage-Komposition als authentisch, erweisen sich diese Südafrika Naturbilder. Jedes einzelne verwendete Foto lieferte aktuelles Material, das dann in der perfekten Mischung eine neue, eben poetische „Wirklichkeit“ hervorbrachte. Mehr als die Spur eines Wirklichen braucht die Kunst nicht, um in ihm Poesie zu entdecken.1 Das heißt, um damit ein starkes Empfindungsmonument zu erschaffen. Ich staune, zu welcher Konsistenz des Bildlichen die neuen digitalen Technologien befähigen. Der Blick ins Kleine verriet Intimität und bezauberte die Phantasie. Das Großformat schafft

1 Vgl. „Fotografie als Erinnerungsspur des Wirklichen“ in P. Good, Hrsg.: Analog und Digital. Techniken und Kunst der Fotografie, Agon Press Zürich u. Bad Ragaz 2013, S. 7-17.

so etwas wie Erhabenes im Digitalen und Heterogenen. Wir leben längst im Heterogenen und Differentiellen. Dazu liefern uns die Medien die Form des Erhabenen.

Die digital generierten Menschen heute „flottieren“ in abstrakten, globalen Medienwelten herum und besitzen nur sehr punktuelle Detailschärfe von Ausschnitten der Wirklichkeit, ohne die ohnehin fiktive Kontinuität von Zeitläufen kennen zu wollen. Das Ungleichzeitige erleben sie in nicht selten ekstatischer Gleichzeitigkeit. Dieses Südafrika-Projekt hat dafür eine verblüffend starke Bildkomposition gefunden.

Ein Idealbild, das mich vom Bildkonzept her, kompositionell-invers, auch an den „Mönch am Meer“ (1808/10) von Caspar David Friedrich erinnert. Bei Frederik Büttgen ist unbestritten ein ähnliches ästhetisches Ideal der Motor seiner Fotokomposition. Derart leere, dunkle, abstrakte Flächen und scharfe, punktuell nahe Küstenstreifen zu einem Bildgefüge zu kombinieren, das harmoniert, beweist eine höchst moderne Bild-Leistung. Dadurch sind bestechend schöne Fotoarbeiten entstanden.

© Paul Good, Philosoph, Philosophie Atelier Bad Ragaz 2013 Professor Dr. Paul Good war 25 Jahre Philosoph an der Kunstakademie Düsseldorf und schrieb eine Reihe Bücher zur Philosophie der Künste. In Bad Ragaz unterhält er seit 2007 ein Philosophie Atelier für Buch- und Symposiums-Projekte. www.philosophiesymposium.ch